16. September 2024

Ja zur Individualbesteuerung

Votum anlässlich der Debatte zur Initiative «Für eine zivilstandsunabhängige Individualbesteuerung (Steuergerechtigkeits-Initiative)» im Nationalrat vom 16.9.24

Bei Abstimmungen und Wahlen ist es unbestritten: Es gilt: One person, one vote! Jede stimmberechtigte Person bekommt ein Stimmcouvert. Es wäre abstrus, Ehepaaren nur ein Stimmcouvert zum gemeinsamen Ausfüllen zu verschicken – obwohl man so durchaus administrativen Aufwand und Portokosten sparen könnte. Nein, in einer Demokratie bekommt man, wenn man stimmberechtigt ist, das Stimmcouvert natürlich zivilstandsunabhängig zugeschickt.

Dieses zivilstandsunabhängige Prinzip soll in Zukunft endlich auch für die Steuererklärung gelten. Es geht nicht darum, jemandem einen Lebensentwurf oder ein Familienmodell aufzuzwingen, Herr Kollege Bregy! Im Gegenteil:  Pro steuerpflichtige Person wird eine Steuererklärung ausgefüllt – egal, ob sie verheiratet ist, in eingetragener Partnerschaft, im Konkubinat oder alleine lebt.

Warum braucht es einen Systemwechsel? Ich sehe drei Hauptprobleme der gemeinsamen Steuerveranlagung von Ehepaaren:

Erstes Problem: Das aktuelle Besteuerungssystem verstösst gegen die Verfassung. Sie wissen es: In unserer Verfassung ist der Grundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verankert. Heute wird aber das individuelle finanzielle Leistungsvermögen von gemeinsam besteuerten Paaren steuerlich anders behandelt als dasjenige von Konkubinatspaaren und alleinstehenden Personen. Das ist nicht verfassungskonform. Das Bundesgericht hat dies bereits 1984 festgestellt – das war vor 40 Jahren! Die Individualbesteuerung ist das einzige System, das mit der Verfassung und der europäischen Menschenrechtskonvention ohne weiteres vereinbar ist. In Europa haben auch deshalb die allermeisten Staaten die Individualbesteuerung bereits eingeführt.

Zweites Problem: Das aktuelle Steuersystem kann zur sogenannten «Heiratsstrafe» führen. Ehepaare sind wegen des Progressionseffekts gegenüber Konkubinatspaaren steuerlich benachteiligt. Sie zahlen überproportional viel Steuern. Das ist ungerecht. Bestraft werden im aktuellen System insbesondere Ehepaare, die ein paritätisches Modell der Erwerbsarbeit leben und beide ungefähr gleich viel verdienen. Mit der Einführung der Individualbesteuerung wechseln wir zur zivilstandsneutralen Besteuerung: Es ist unerheblich, ob jemand verheiratet ist, im Konkubinat lebt oder alleinstehend ist. Der Zivilstand darf keine Auswirkungen auf die Steuerlast haben. Die Ehe soll steuerlich weder benachteiligt noch bevorzugt werden.

Drittes Problem: Das aktuelle Steuersystem befeuert den Fachkräftemangel. Wieso? Es setzt negative Erwerbsanreize für verheiratete sogenannt «Zweitverdienende». Je mehr die Erstverdienende verdient, desto höher fällt die Steuerbelastung des Zweitverdienenden aus. Wenn man über die Hälfte des Zweiteinkommens gleich wieder für Steuern abgeben muss, führt das dazu, dass Zweitverdienende nur in einem kleinen Pensum oder gar nicht erwerbstätig sind. Das hat zur Folge, dass wir viele gut ausgebildete Personen, meist Frauen, als Arbeitskräfte verlieren, obwohl sie dringend gebraucht würden. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ist es wichtig, dass wir alles beseitigen, was Leute daran hindert, mehr zu arbeiten. Der Systemwechsel wird mittel- und langfristig auch zu steuerlichen Mehreinnahmen führen – man rechnet mit 40–60'000 Vollzeitstellen, die besetzt werden können.

Meine Damen und Herren. Die Gesellschaft hat sich verändert: Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts war es eine Selbstverständlichkeit, dass fast alle ledigen Personen mindestens einmal in ihrem Leben heiraten. Heute sind es nicht einmal mehr zwei Drittel, und davon lässt sich die Hälfte irgendwann wieder scheiden. Es ist Zeit, auch steuerveranlagungsmässig im 21. Jahrhundert anzukommen und die Besteuerung den gesellschaftlichen Realitäten anzupassen. Mit der Einführung der Individualbesteuerung erfüllen wir endlich den Verfassungsgrundsatz der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit, wir schaffen die sogenannte Heiratsstrafe ab, Erhöhen die Erwerbsanreize für Zweitverdienende und wir verbessern die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern.

Ich bitte Sie, dem indirekten Gegenvorschlag zuzustimmen und auch die Initiative anzunehmen.